Wie kein zweiter Politiker erfuhr Otto von Bismarck (1815-1898) schon zu Lebzeiten, vor allem aber in den Jahrzehnten nach seinem Tod kultische Verehrung. Um an ihn und seine Politik zu erinnern, erschien nicht nur eine Fülle apologetischer Literatur, sondern es wurden mehr als 200 Bismarck-Denkmäler, -Türme und -Säulen errichtet und nicht nur in Deutschland unzählige Straßen, Plätze, Stadtteile, Schulen, Gasthäuser oder Apotheken nach ihm benannt. Damit ist er auch im 21. Jahrhundert im Alltag präsenter als jeder andere Politiker oder jede andere Politikerin Europas. Dieses bisweilen befremdlich wirkende Ehrregime im öffentlichen Raum entstand nicht durch behördliche Lenkung wie bei den Personenkulten der Diktaturen des 20. Jahrhunderts – Bismarck-Orte breiteten sich vielmehr durch lokale Initiativen gewissermaßen als Wildwuchs aus. Ob ein Findling mit einer Inschrift versehen oder eine teure Bronzestatue aufgestellt wurde, eine Farm in Australien oder ein Schlachtschiff auf ihn getauft wurde, hing von lokalen Gegebenheiten ab, die von keiner Stelle gesteuert oder verzeichnet wurden.
Mit dem Projekt „Bismarckierung“ wird ein weltweiter Überblick auf die vielgestaltigen Bismarck-Orte geschaffen. Als technisches Hilfsmittel dient dazu Google Maps, dort können Pins gesetzt und diese um einen Text, ein Bild oder einen Link ergänzt werden. Auf diese Weise entsteht eine Topographie des einstigen Bismarck-Gedenkens, die den längst verblassten Kult nicht ein zweites Mal „feiert“, sondern als Grundlage für wissenschaftliche Fragen über seine Entstehung und Verbreitung und ihr Überdauern hilft, ihn zu dekonstruieren. Hierfür sind nicht nur die Art des betreffenden Ortes oder die Beschaffenheit und Lage eines Denkmals entscheidend, sondern vor die zeitliche Dimension:
Was sagt es zum Beispiel über eine Stadt in den neuen Bundesländern aus, wenn sie nach 1990 eine Straße, die vormals nach einer sozialistischen Vorzeigefigur benannt war, in „Bismarckstraße“ umtaufte? Wohin wurden Bismarck-Denkmäler umgesetzt? In welchem städtebaulichen Kontext stehen die einst würdevoll platzierten Figuren heute? Wie wurde mit Bismarck-Orten in ehemaligen deutschen Ostgebieten umgegangen? Was geschah mit Bismarck-Benennungen in deutschen Kolonien oder dort, wohin deutschen Auswanderer ihn nach Übersee noch mitgenommen hatten? Und weshalb ist der eine Bismarckturm ein liebevoll gepflegtes Denkmal und der andere eine graffitiübersäte Ruine?
Bismarck-Turm am Starnberger See Bismarck-Häuschen in Göttingen
Die „Bismarckierung“ ist ein Gemeinschaftsprojekt für alle historisch Interessierten, betreut wird es von der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Teilen Sie uns gerne einen noch nicht verzeichneten Bismarck-Ort mit, weitere Informationen finden Sie unter Mitmachen!